EDIFICIO CORPORALE - CORPO ESTRANEO baukörper fremdkörper

Cordula Seger, Bernardo Bader, Lilitt Bollinger, Armando Ruinelli, Köbi Gantenbein

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Man ist sich einig: „Dieses Haus ist fremd”. Gemeint ist der Palazzo Castelmur, eine venezianisch angehauchte Repräsentationsarchitektur, Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Mailändischen Architekten in die Bergeller Landschaft hineingeklotzt. Für einen Einheimischen notabene. Einen, der im Ausland zu Geld gekommen war und sich mit dem Reichtum aus der Fremde die alte Heimat wieder anzueignen begann. Für die kurze Dauer einer Ausstellung hat sich Miriam Cahn hier installiert. In den prachtvollen Räumen wirken ihre aufwühlenden Menschenbilder wie Fremdkörper. Das Gebäude verändert sich durch ihre Präsenz. Die Einbindung in einen fremden Kontext verwandelt aber auch die Rezeption der Gemälde selbst. Die Darstellungen des menschlichen Leidens – in diesem besonderen Ambiente werden sie zum kritischen Kommentar. Werfen die Frage auf, unter welchen Bedingungen ein solcher Palast entstehen kann; welche Ausbeutung sich hinter dem immensen Kapital verbirgt, das eine solch unverschämte Zurschaustellung der Macht überhaupt ermöglicht.

Seit rund 170 Jahren steht er nun schon, dieser turmbewehrte Koloss. Für den Architekten, der seit jeher hier wohnt, war er immer schon da. Gehört er zum Bergell, wie das nicht minder fremde Hotel Bregaglia in Promontogno oder die Staumauer Albigna hoch über dem Tal. Aber eben doch nicht ganz. Denn das wirklich Eigene, das sind die nuclei, die historischen Dorfkerne, wo die alten Bauernhäuser dicht gedrängt beieinanderstehen. Wo alles ein bisschen gleich ist: die verputzten Bruchsteinmauern, die sonnengeschwärzten Holzbalken, die Steinplattendächer, die kleinen Fenster, die Typologie. Das Neue hat hier nur bedingt seinen Platz. Man hat es ausgelagert, in die „Speckgürtel”, welche die historischen Siedlungen umgeben. Dort durfte ganz unverblümt das 20. Jahrhundert einziehen, die Moderne mit all ihrer Individualität. Der Bruch mit dem autochthonen Weiterbauen. Der Bruch mit dem Kontext, mit der Tradition. Ein Stück Agglomeration im heimatlichen Paradies, mit dem man sich nicht identifiziert und das entsprechend auch nicht interessiert.

Die alten Dörfer hingegen, sie werden zum Sehnsuchtsort für Fremde aus der Stadt. Angezogen vom idyllischen Bild, möchten sie am liebsten, dass alles beim Alten bleibt. Ist das richtig? Der Architekt meint nein. Er ist gegen das Musealisieren dessen, was er seine Heimat nennt. Er möchte sie mutig erneuern – hat hierfür aber kein allgemeingültiges Rezept. Dorferneuerung um jeden Preis? Das dann doch lieber nicht. Denn es ist heikel: Wenn man’s nicht gut macht, ist etwas über Jahrhunderte Gewachsenes auf einen Schlag für immer zerstört.

Die Fremden, sie kommen nicht aus Not hierher. Sie kommen, weil sie kommen können. Sie suchen das Andere und freuen sich an dem, was da ist. Eignen sich ihnen fremde Häuser an, nutzen sie um, wirken auf sie ein und hauchen ihnen dadurch wieder Leben ein. Was ist dem entgegenzuhalten? Vielleicht, dass denkmalpflegerisches Experimentieren zwar interessant ist, aber noch keine Gemeinschaft schafft? Dass ein Dorf verkommt, wenn es zum blossen Ferienresort wird? Dass nur durch eine „Biodiversität der Einwohner*innen” wahre Community entsteht? Wie aber soll man sich weiterentwickeln, wenn dem Ort, der Region die breite Erwerbsbasis fehlt?

Umnutzen, Nachnutzen – das ist das Thema der Stunde, auch anderswo. Bewährtes, Vertrautes erhalten und mit Neuem ergänzen, wo dies notwendig erscheint. Neuem Inhalt. Neuem Raum. Neuer Form. Es ist auch eine Antwort auf das bedrohlichste Fremde der Gegenwart: die Klimakatastrophe, die uns so unbedingt zur Nachhaltigkeit zwingt. Wie geht man vor bei einer solchen Transformation, die immer mehr die architektonische Arbeit bestimmt? Indem man sich einlässt, auf das, was da ist. Hinschaut. Wahrnimmt. Erkennt. Im ersten Augenblick ist immer alles fremd. Mit der Zeit eröffnet sich einem das Wesen des Vorhandenen, dessen zeitliche Dimension, seine historische Verankerung. Darauf aufbauend, fügt man Neues hinzu, das in Dialog tritt mit dem Alten und sich mit diesem verwebt. Dann ist einem nichts mehr fremd. Ausser das unberechenbare Leben, das sich nach Bauabschluss des neuen Gebäudes bemächtigt. Bevor es einzieht, hält man fotografisch den Augenblick fest, in dem das zum Eigenen gewordene Fremde zum letzten Mal noch einem selbst gehört. Ein Bild, das keine menschlichen Spuren verträgt, denn sie laden das Vertraute mit etwas Neuem auf, das man in diesem Moment so gar nicht sucht.

Das Überformen des Bestands, das Schaffen eines neuen Zusammenhangs, der dann wieder zum Eigenen werden kann – das Thema geht über das Einzelobjekt hinaus, betrifft insbesondere auch die weitläufigen Agglomerationen der Zentren, allen voran im „Unterland”. Dort, wo jahrzehntelang zersiedelt wurde, um jeden Preis. Ungezähmt, beliebig, einfach nur gebaut. Riesige Gebiete von oft betörender Hässlichkeit, vor denen die Architektur gerne die Augen verschliesst. Doch sind sie Lebensrealität und auch vertrautes Daheim für einen nicht unerheblichen Bevölkerungsteil. Nun bricht das Gebot der Verdichtung als etwas Neues, etwas Fremdes in diese Gebiete ein. Anders als in den alten Bauerndörfern des Bergells etwa, wo die Dichte stets das Eigene war. Kann man von Soglio lernen, wie man durch Verdichten qualitätsvolle Räume schafft? Vielleicht.

Die Architektinnen und Architekten sind auf jeden Fall gefordert, sich dieser fremden, gar verachteten Agglomeration anzunehmen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie sich anzueignen – damit dort etwas gesellschaftlich bzw. gemeinschaftlich Relevantes entsteht.

Zurück zum Kontext also? Zurück zur Tradition? Der Bruch mit der Moderne, die doch ihrerseits die Entfremdung vollzog? Oder lässt sich das Weiterbauen am Bestand allenfalls auch verbinden mit dem Wunsch nach der Schaffung eines ikonischen Objekts? Dass es davon nur eine kleine Anzahl verträgt, ist offensichtlich. In der Mehrheit ist das Einfache gefragt, das Integrierte, das, was ganz selbstverständlich erscheint, auch wenn es dies längst nicht mehr ist. Das Aufgehen im Eigenen eben. Doch strebt nicht jeder Architekt und jede Architektin nach dem Aussergewöhnlichen, dem Radikalen, dem Individuellen? Wie auch immer, es gilt stets, die divergierenden Bedürfnisse des Eigenen und des Fremden miteinander zu verbinden. Der Palazzo Castelmur mit seinem janusköpfigen Gesicht gibt hierzu etwas Anschauungsunterricht. Auf der einen Seite dieser grosstuerische Habitus, auf der anderen das Integrieren eines barocken Bestands und der städtebauliche Bezug zum alten Dorf.

Man ist sich einig. Das Fremde ist inspirierend. Es ist schön. Und es ist ein Motor der Entwicklung. Auch in der Architektur.

Ludmila Seifert

l'architettura è troppo importante per essere lasciata agli architetti. / giancarlo de carlo