CASTELMUR trompe-l’oeil, architektur, kunst + migranten

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für die ausstellung cahn wird der grosse saal vollständig geleert, damit wir die konzentration des schauens auf dessen trompe l'oeil malerei beschränken. der grosse saal ist ein banaler würfelförmiger raum mit 2 x 2 relativ grossen fenstern in die rauhe landschaft des Bergells.

die wandmalerei löst diesen raum vollständig auf. durch diese spezifische technik des malens entsteht ein völlig anderer raum, öffnet sich die decke zum himmel, sehen wir elegante marmorbordüren, säulenkapitelle und andere plastische bauelemente und die ganze raumperspektive ist verschoben: eine repräsentative raumillusion. um die in dem raum sich befindenden und sich herumbewegenden menschen zu “täuschen” und sie glauben zu machen, dieser raum sei so wie er scheint: nämlich sehr viel grösser und mit direkter sicht hinauf in den himmel.

malerei, zeichnung, fotografie usw. arbeiteten schon immer mit material auf einer fläche und der behauptung, mehr darzustellen als dieses material auf der fläche. diese behauptung verbindet meine arbeit mit der tromp l'oeil malerei im hauptsaal des Castelmurs vor allem durch die darstellung von perspektive auf flachen trägern.

inhaltlich verbindet uns nichts. ich arbeite nicht, um illusionen zu schaffen, meine arbeit repräsentiert nichts. ich versuche die heutezeit täglich zu erwischen. eine parallele besteht zwischen dem heute und dem trompe l'oeil im Castelmur durch die menschendarstellungen im netz, die ein bild inszenieren und weltweit zeigen. wie die menschdarstellung im rittersaal des Castelmurs eine mischung ist zwischen der vorstellung/bild von mittelalterlichen rittern und römischen feldherren, welche die bewohner des Castelmur repräsentieren sollten, stellen millionen von menschen heute ihr eigenes idealbild mit selfies, avataren usw. ins netz.

in der zeitgenössischen architektur kenne ich nichts, das dem trompe l'oeil entspricht: räume, deren flächen/wände durch malerei einen völlig anderen raumeindruck herstellen?

James Turell löst räume auf durch farbgebung - wir schweben in seinen räumen, oben + unten sind aufgehoben und wie im “grand blanc” geht unsere räumliche orientierung völlig verloren. wird diese technik der raumauflösung deswegen von architekten heute nicht verwendet?

vom inhalt her verbindet meine arbeit sich mit der dauerausstellung im Castelmur über die arbeitsmigranten, die aus ihren alpentälern weg in die welt mussten, weil sie hier in ihren tälern nicht überleben konnten. sie versuchten es überall in der welt. wenige erfolgreiche kamen zurück und bauten hier repräsentative neue bauten wie das Castelmur, aber eine unbekannt grosse menge dieser damaligen arbeitsmigranten gingen unter - wie wissen wir ganz einfach nicht. im gegensatz zu den heutigen informationen/bildern über männerfrauenkinder, die im mittelmeer ertrinken, nach monatelangen wegen irgendwo festsitzen in brutal überfüllten lagern, nur weil sie nicht auf legalem weg zu uns kommen dürfen.

das werde ich nie verstehen nie nie nie.

warum können reiche demokratien wie die unseren diese menschen nicht aufnehmen? warum werden in den sich heute entleerenden alpentälern keine migranten aufgenommen, um das langsame aussterben zu verhindern? sind wir die besseren menschen? waren wir nicht auch ursprünglich fremde? eine fremde kultur bringt anderes wissen aus der fremde und wir wollen das nicht?

unsere nicht wirklich vorhandenen existenziellen ängste werden von unserer politik vergrössert, damit wir alle glauben diese ängste wirklich zu haben. daher fehlt empathie, wenn menschen täglich in unserem mittelmeer ertrinken - das sind ja nicht wir, das sind diese illegalen fremden. das mittelmeer ist unser feriensüden.

miriam cahn 2020