CIÒ CHE CI GUARDA was uns anschaut

Eric Facon, Johanna Lier, Alberto Salvadori, Monique Eckmann, Kathleen Bühler, Francesca Recchia

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Fragmente einer Debatte

Was bedeutet es, fremd zu sein? Warum geht uns das Fremdsein etwas an? Und warum sollte man im Rahmen einer Ausstellung darüber sprechen?

Das Thema ist zweifellos komplex und vielschichtig. Wenn „das Fremde” uns in erster Linie an den juristischen Bereich denken lässt, auf die Unterscheidung zwischen denen, die zu einer Gesellschaft oder einem Staat gehören, und jenen, die ausgeschlossen sind oder am Rande bleiben müssen, kann das „Fremdsein” auch als eine universelle conditio humana betrachtet werden. Die Begegnung mit dem Fremden kann sich als Moment von Konflikt und Trennung, aber auch als Gelegenheit zu Entdeckung und Wissen herausstellen. Unter anthropologischen Gesichtspunkten ist die Begegnung mit dem Anderen wesentlich für den Aufbau des individuellen und kollektiven Selbst.

In der zeitgenössischen Kunst ist das Fremde, wie die Kunstkritikerin Kathleen Bühler bemerkt, häufig positiv konnotiert. Das, was fremd, befremdend ist, eröffnet neue Anschauungen: „Wir erwarten, dass die Kunst uns aus dem Gewohnten hinausführt, dass sie uns irritiert, sonst sind wir enttäuscht.”

Von einem ähnlichen Blickwinkel aus stellt der Kurator Alberto Salvadori fest, dass er „das Fremde wirklich brauche, also alles, was anders ist als ich, das nötig ist, um eine neue Beziehung herzustellen, einen Kontakt zu einer Realität, die nicht nur die der Individuen und nicht nur die der Menschen ist.” Das Fremde wird zu einem Instrument, um aus der anthropozentrischen Perspektive herauszutreten und Zugang zu „einer Art von universellem Wissen” zu erhalten.

Wendet man sich dagegen vom künstlerischen und philosophischen Diskurs ab und dem konkreten Feld der politischen und rechtlichen Beziehungen zu, verändert sich der Blickwinkel. Zwar ist das Fremdsein eine universelle Erfahrung, wie die Soziologin Monique Eckmann bemerkt, „jedoch ist es ein Unterschied, ob man sich fremd fühlt und dabei die gleichen Rechte hat, oder ob man sich fremd fühlt und keine Rechte in der Gesellschaft hat”. Eigentlich geht es um Macht, um Machtbeziehungen: „Wer hat das Sagen? Wer darf hier wohnen, wer darf arbeiten, wer bleiben?”

Der Begriff des Fremden selbst ist problematisch, mahnt Johanna Lier, die in der See­notrettung von Migrant*innen aktiv ist, denn er liefert die Hauptlegitimation für die Abschiebungen. „Für mich existiert das Fremde nicht, sondern ist ein Konstrukt […]. Mich interessiert, was mit den Menschen passiert, auf die sich diese Projektion richtet, oder was mit mir passiert, wenn sich diese Projektion auf mich richtet.” Einen ähnlichen Ansatz hat auch Francesca Recchia: „Im Allgemeinen betrachten wir die anderen aus einer privilegierten Position heraus als Fremde. Für mich ist es wichtig, einmal die Karten neu zu mischen, um zu verstehen, wie die Dynamik funktioniert, die gewisse Beziehungen hervorbringt.”

Für Recchia, die seit Jahren in Kabul lebt, kann diese Geste, „die Karten neu zu mischen”, sich seiner eigenen Verletzlichkeit zu stellen, die Trennung zwischen uns und ihnen, Einheimischen und Fremden überwinden – „denn solange wir uns in Kategorien einordnen, besteht immer das Risiko, bestimmte Machtbeziehungen zu konkretisieren” – und den Begriff der Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt stellen. Johanna Lier bemerkt, dass die Begegnung es ermöglicht, über die Unterschiede hinauszugehen, die häufig oberflächlich sind, um zu entdecken, was uns vereint. „Es gibt viele Gemeinsamkeiten, was uns bewegt, was uns Angst macht, unsere grosse Verwundbarkeit.”

Die Unterteilung der Menschen in Kategorien hatte im Laufe der Geschichte dramatische Folgen – während der nationalsozialistischen Herrschaft wurden „diejenigen, deren Leben als nicht lebenswert galt, ermordet”. Das sollte aber nicht dazu führen, dass alle Unterschiede nivelliert werden, wendet Monique Eckmann ein, die ihr Interesse an der Frage des Fremdseins auf ihre Erfahrung als in der Schweiz aufgewachsene Jüdin zurückführt. „Dass die Juden noch als Kultur, als Zivilisation existieren, liegt daran, dass sie sich angepasst, aber nicht assimiliert haben.” Unterschiede sollen jedoch nicht zu ungleichen und hierarchischen Beziehungen führen.

Francesca Recchia wiederum äussert die Befürchtung, dass man letztendlich eine vereinfachende Antwort auf ein vielschichtiges Problem gibt, solange man in einer rechtlichen Perspektive verharrt. Wenn man das Fremde nur in Bezug auf den Staat und die Nationalität betrachtet, läuft man Gefahr, in Demagogie abzurutschen, „die der politischen Agenda der extremen Rechten zugutekommt”.

Alberto Salvadori räumt ein, das Thema könne auf verschiedenen Ebenen behandelt werden, und wenn Personen aus dem Ausland als Fremde verstanden werden, muss dies „notwendigerweise zur Anerkennung des gleichen Rechts für alle” führen. Jedoch bliebe ein solcher Ansatz, der aus dem 20. Jahrhundert stammt, seiner Ansicht nach auf kulturelle Bereiche beschränkt, die nicht universell sind. „Für mich ist der Begriff vom Fremden als dem Anderen wichtig als etwas, das über uns hinausgeht, und ich möchte es nicht jedes Mal auf eine Frage von Identität zurückführen.” Die Begegnung mit dem Anderen ist in dieser Hinsicht eine Begegnung, die die Grenzen der Menschheit überschreitet und alles Lebende einschliesst.

Die Debatte wendet sich nun wieder dem Begriff des Fremden in der Kunst zu, jenseits gängiger Anschauungsmuster. Kathleen Bühler lenkt die Aufmerksamkeit erneut auf die Frage, welche Gemeinsamkeiten Menschen haben, und verweist auf Miriam Cahns Werk: „Sie traut sich, auf radikale Weise zu fragen, was das Menschliche ist.” Die von der Künstlerin gemalten Geburtsszenen zum Beispiel, die an Drastik „nicht zu überbieten” sind, erinnern uns laut Bühler daran, dass wir alle auf die gleiche Weise auf die Welt gekommen sind, egal welche Hautfarbe, Nationalität oder Privilegien wir haben.

Für Monique Eckmann beschränkt sich Cahns Werk jedoch nicht auf die Darstellung radikaler Menschlichkeit, sondern ist von Macht- und Herrschaftsbeziehungen durchzogen. Was uns vereint, steckt voller Konflikte. „Wenn man nur das Gemeinsame betont, wirkt das leicht ein bisschen idyllisch. Was mich anschaut in dieser Ausstellung sind Dominanz, Konflikte, Gewalt.” Eine radikale Auseinandersetzung mit der Menschheit geht notwendiger­weise auch mit der Darstellung von Gewalt einher, stimmt Kathleen Bühler zu. „Die Kunst macht uns dabei keine Lösungsangebote, sondern sie hilft uns, die Dinge anders anzuschauen.”

„Die Konfrontation mit dem Anderen hat nichts Idyllisches”, bestätigt Alberto Salvadori. In der Arbeit von Miriam Cahn, in der es nicht nur Menschen, „sondern auch Tiere, die Natur, die Umwelt” gibt, erleben wir „fortwährende Begegnungen/Auseinandersetzungen, die nichts Tröstliches haben”, aber helfen zu sehen, ohne irgendetwas zu erklären. Auf die Geburtsszene bezogen, bemerkt Salvadori, dass „diese Begegnung mit einer Form von Gewalt zu einer anderen Denkweise führt”, die Bilder jedoch keine endgültigen Antworten geben.

Folgt man diesem Ansatz, stellt sich das Fremde als Erkenntnisinstrument dar. Das, was uns anschaut, wendet sich an uns, stellt uns Fragen und drängt uns folglich, neue Antworten zu finden. Das Fremde wird zur Entfremdung, laut Francesca Recchia, „dieser Moment der Unterbrechung, der notwendig ist, um sich selbst und den anderen kennenzulernen”. Der Moment der Entfremdung ist auch mit Ungewissheit und Skepsis verbunden, die ihrerseits zum produktiven Raum werden. „Dieser Raum, der gleichzeitig vertraut und fremd, nah und feindselig ist, der in gewisser Weise den Raum des Fremdseins verkörpert, scheint mir in Miriam Cahns Werk zu begegnen.”

„Es gibt ja immer diesen Bruch”, stimmt Kathleen Bühler zu. „Das Kunstwerk lockt mich mit der Schönheit oder dem Vertrauten an, aber es gibt diesen Bruch, der mich wieder zurückstösst, man wird immer in der Schwebe gehalten.” Was uns zur Ausstellung von Miriam Cahn im Palazzo Castelmur bringt, „dem Einbruch der Gegenwartskunst hier, die als Fremdkörper empfunden wird”.

Alberto Salvadori nimmt diese Überlegungen auf und führt sie weiter. Er bemerkt, dass der Palazzo Castelmur eigentlich ein „völlig missglücktes” Pastiche von Stilen sei, die ausländischen Vorbildern entlehnt wurden, aber trotzdem in der Lage, die Identität des Orts und seiner Bewohner zum Ausdruck zu bringen. Wenn nun Miriam Cahns Werke – ein weiteres fremdes Element – in diese Mauern einziehen, „ist das, als würde der Kontext zertrümmert”. Der Kontrast bringt seinerseits eine weitere Form von Wissen hervor.

Zwischen dem Palazzo und Miriam Cahns Werken entsteht eine Dissonanz, ein Konflikt, eine Irritation, stellt auch Monique Eckmann fest. „In der Sozialpsychologie sagt man, dass eine solche Situation sehr produktiv ist, weil sie anregt, weil man aus der Dissonanz raus muss. Also braucht man neue Lösungen, einen neuen Ansatz.” Daraus kann ein Dialog entstehen. Ein Dialog, der nicht nur bedeutet, miteinander zu sprechen, sondern vor allem, einander zuzuhören, „und auch etwas zu hören, mit dem man nicht einverstanden ist, oder das einem sogar wehtut”.

Andrea Tognina

se alzi un muro, pensa a ciò che resta fuori / Italo Calvino